Von geistlicher und leiblicher Vaterschaft – Theologie und Praxis in den katholischen Ostkirchen

Beim Gedanken an priesterliche Identität ist für katholische wie orthodoxe Ostkirchen das Thema der „Vaterschaft“ leitend. Der priesterliche Dienst wird hier wesentlich ausgehend von der Vorstellung der geistlichen Vaterschaft definiert, welche in ihrem spezifischen Verständnis etwas anderes ist als ein einfaches Synonym zu dem, was im Westen heute unter „geistlicher Begleitung“ verstanden wird. Die geistliche Vaterschaft hat im christlichen Osten ein klares Profil, dessen Wurzeln wesentlich im Mönchtum zu suchen und zu finden sind. Zudem ist die weithin innerhalb der katholischen Ostkirchen als Selbstverständlichkeit empfundene Vereinbarkeit von Priestertum und Familienleben, also von geistlicher und leiblicher Vaterschaft, eine Herausforderung mit Chancen und Grenzen innerhalb der gesamtkirchlichen Diskussion um die Frage des Zölibats. In diesem Spannungsfeld ist eine charakteristische Antwort auf die Frage nach priesterlicher Identität aus ostkirchlicher Perspektive zu suchen. In diesem zweiteiligen Beitrag geben Michael K. Proházka als Ordensmann und Ivan Kachala als verheirateter griechisch-katholischer Priester aus der je unterschiedlichen Perspektive der eigenen priesterlichen Lebensform eine spezifische Antwort auf die Frage nach priesterlicher Identität, wie sie dem Geist ostkirchlicher Spiritualität entspringt. Bei aller Unterschiedlichkeit im Einzelnen besitzt der Gedanke der Vaterschaft dabei etwas zutiefst Verbindendes.

I. Geistliche Vaterschaft aus ostkirchlich-monastischer Perspektive

Michael K. Proházka

In seinem Roman „Das Glasperlenspiel“ fügt der Schriftsteller Hermann Hesse drei Lebensläufe an, die das Leben der Hauptfigur, des Magisters Ludi Josef Knecht, in verschiedene geschichtliche Epochen zurückprojiziert. Der so genannte zweite Lebenslauf „Der Beichtvater“ führt in die Zeit des heiligen Hilarion, des Begründers des palästinischen Mönchswesens im vierten Jahrhundert, und handelt von einem fiktiven Einsiedler namens Josephus Famulus, in dem eine Befähigung schlummerte, die erst langsam, mit den Jahren zu ihrer Blüte kam: „Es war die Gabe des Zuhörens… Langsam, in langen Jahren, hatte dieses Amt sich seiner bemächtigt und ihn zum Werkzeug gemacht, zu einem Ohr, dem man Vertrauen schenkte. Eine gewisse Geduld, eine gewisse einsaugende Passivität und eine große Verschwiegenheit waren seine Tugenden…“[1] Damit verweist uns Hesse nicht nur in jenen historischen Ursprung zurück, dem alle geistliche Vater- und Mutterschaft in der ostkirchlich monastischen Tradition zugrunde liegt, nämlich den des frühchristlichen Mönchtums in Ägypten und Palästina des dritten und vierten Jahrhunderts,[2] er charakterisiert damit auch wesentliche Kriterien geistlicher Vaterschaft, wie sie in den nun folgenden Ausführungen näher dargestellt werden sollen.[3]

Es würde den Rahmen meiner Darstellung bei weitem sprengen, würde man hier einen historischen Abriss über die geistliche Vaterschaft geben. Es sei nur so viel gesagt, dass sich eine kontinuierliche Linie von den geistlichen Vätern im Mönchtum der Alten Kirche über das byzantinische Mönchtum – erinnert sei hier an den Studitenmönch und Mystiker Symeon den Neuen Theologen (etwa 949–1022) – bis zu den großen Mönchsgestalten des Hesychasmus auf dem Berg Athos und vor allem dem russischen Starzentum, das seine Blütezeit im 18. und 19. Jahrhundert erlebte, ziehen lässt. Aber auch zahlreiche zeitgenössische Beispiele geistlicher Vaterschaft lassen sich ausmachen, so etwa der russische Starez Siluan, die Altväter Paisios und Porphyrios von Kavsokalyvia vom Berg Athos, aber auch diverse Mönchsväter im Rumänien der postkommunistischen Ära.[4] Einer besonderen Erwähnung bedarf die Renaissance der Seelsorge und geistlichen Lebensbegleitung im derzeitigen ägyptischen Mönchtum, wobei vor allem die überragende Gestalt des mittlerweile verstorbenen koptischen Patriarchen Schenuda III. eine beachtenswerte Ausstrahlung und Wirkkraft besaß.[5]

Während es in der modernen Lebensberatung hauptsächlich um den Umgang mit seinen Emotionen, aber auch um die Bewältigung von Lebenskrisen im Sinne eines „Coaching“ geht, stehen diese Akzente bei der geistlichen Vaterschaft nicht so sehr im Vordergrund. Auch wenn ebenfalls Lebensfragen aus dem Hier und Jetzt, Schwierigkeiten in der geistlichen Lebensführung, ja auch veritable Krisen besprochen werden, so steht das Handeln des geistlichen Vaters und seiner „directio“ vor allem unter dem Aspekt der Theosis, auch Theopoiesis genannt. Damit ist gemeint, dass die ostkirchliche Praxis der Seelenführung jenes Ziel vor Augen hat, um dessentwillen die Mönche auch den Weg der Askese ergriffen haben, was aber keineswegs eine Missachtung oder Unkenntnis menschlicher Probleme bedeuten muss. Es ist interessant zu beobachten, dass die großen charismatischen Gestalten der geistlichen Vaterschaft, auch wenn sie nicht im Detail über weltliche Ereignisse informiert waren, es dennoch verstanden haben, auch in der Gegenwart stehen, sehr praktische Hinweise und Ratschläge zu erteilen, die sich an der Heiligen Schrift, aber auch an den Erfahrungen historischer Mönchsgestalten orientieren. Letztendlich geht es in der geistlichen Vaterschaft aus ostkirchlicher Perspektive um eine ikonologische Perspektive, dass nämlich der ratsuchende Mensch erkennt, dass er nach dem Bild und Gleichnis des dreieinigen Gottes geschaffen ist und dass diese „Abbildhaftigkeit“ in einem lebenslangen Prozess der geistlichen Führung wieder hergestellt werden kann und soll.[6]

Aus den vorherigen Ausführungen dürfte schon deutlich geworden sein, dass es dieGestalt eines geistlichen Vaters in der ostkirchlichen Tradition so nicht gibt und geben kann. Schon Hesse dürfte dies intuitiv gesehen haben, stellt er doch in besagtem Lebenslauf der „Werteabstinenz“ des Josephus Famulus die aktive, interpretierende und „zupackende“ Gestalt des „anderen“ Beichtvaters Dion Pugil gegenüber, der straft, harte Bußen auferlegt, ja sogar Ehen stiftet.[7] Es sei an die Frage des Journalisten Peter Seewald an Kardinal Josef Ratzinger, den späteren Papst Benedikt XVI., „Wie viele Wege gibt es zu Gott?“ erinnert, als dieser überraschend zur Antwort gab: „So viele, wie es Menschen gibt.“[8] So unterschiedlich wie die Persönlichkeiten und Lebenswege einzelner Menschen sind, so individuell sind auch ihre Wege auf der Suche nach Gott. Dies hat ein erfahrener geistlicher Vater sich immer vor Augen zu halten, und er wird dies in seiner Begleitung und Führung auch berücksichtigen. Ebenso darf an dieser Stelle festgehalten werden, dass man sich nicht selbst zum geistlichen Vater machen kann, sowie diese Begabung auch nicht durch „Fortbildungskurse“ erwerben kann.[9] Der geistliche Vater ist und bleibt eine charismatische Persönlichkeit, der aus seiner Erfahrung heraus handelt und zuvor selbst diesen Prozess durchlaufen hat. Er ist durch und durch ein „pneumatikos“, also jemand, der ein Gefäß des Heiligen Geistes geworden ist.[10]

Der geistliche Vater – und dies ist in diesem Kontext von eminenter Bedeutung! – ist selbst nicht vollkommen, sondern befindet sich wie seine geistlichen Kinder ebenfalls auf dem Weg. Dies wird er ihnen immer wieder deutlich machen, um sie in ihren Problemen und Fragen, in ihrer Suche zu stärken. Dass dies schon ein wesentliches Faktum der frühkirchlichen Mönchsväter gewesen war, sei hier ebenfalls erwähnt. „Gleichzeitig hat er [sc. der geistliche Vater] aber auch seine besonderen Gaben, die er durch den Aufenthalt in der Einsamkeit geschärft hat, einzusetzen: Vor allem die Gabe zur Unterscheidung der Geister … und zur Herzenserkenntnis… Er vermag sein Wissen darüber sowohl zur Selbst- als auch zur Fremddiagnose einzusetzen.“[11] Hier sei nochmals daran erinnert, dass es sich hier nicht um übernatürliche, „magische“ Fähigkeiten des geistlichen Vaters handelt, sondern dass die Gabe der „Unterscheidung der Geister“ durch lange Selbsterkenntnis des eigenen Herzens – ebenfalls bei und durch einen geistlichen Vater – erworben wird. Auch meint diese Gabe der „kardiognosia“ das „Wissen um das Gegenüber als eines Ganzen, nicht nur um seine Taten oder seine Gedanken… [das] nur in Liebe erkannt und besprochen werden kann“. [12] Im Unterschied zu einem Psychotherapeuten, der während des therapeutischen Prozesses Neutralität und Arbeitsdistanz wahren soll und muss, stellte der geistliche Vater „schon in der Alten Kirche keinen unbeteiligten Ratgeber dar. Vielmehr geht es um eine enge Beziehung zwischen ihm und seinem ‚geistlichen Kind‘, um freundschaftliche Zuneigung. In der zeitgenössischen orthodoxen Theologie hat insbesondere der verstorbene rumänische Systematiker Dumitru Stăniloae auf das notwendige freundschaftliche Verhältnis der einzelnen Gläubigen zu ihrem Beichtvater als geistlichem Vater hingewiesen.“[13] Maßgeblich ist hier die Einsicht des Symeon des Neuen Theologen: Nur der Freund kann Mittler sein, nicht hingegen der unbeteiligte Richter.[14] Letztendlich impliziert dies auch den geistlichen Gehorsam des geistlichen Kindes gegenüber seinem geistlichen Vater als dem Repräsentanten Christi, der freiwillig auf sich genommen, absolut und eng mit der geistlichen Vaterschaft verknüpft ist[15] – durchaus ein potentieller Stein des Anstoßes in unserer modernen Zeit und westlich geprägten Kultur! Dass es sich hierbei nicht um eine permanente Fremdbestimmung handelt, noch der Wille des geistlichen Kindes gebrochen werden soll, muss um der Vermeidung von Missverständnissen willen an dieser Stelle besonders betont werden. Also kein blinder Gehorsam, sondern bewusster Gehorsam gegenüber Gott, der durch den Starez bzw. Gerondas repräsentiert wird.[16] Letztendlich geht es aber um eine innere Freiheit, die durch den geistlichen Gehorsam erreicht werden soll, indem man sein eigenes Leben unter die Gnade und Barmherzigkeit Gottes stellt. Allerdings darf in diesem Zusammenhang die Gefahr eines Autoritätsmissbrauchs durch den geistlichen Vater – sei er bewusst oder unbewusst, oder vielleicht auch „nur“ guten Glaubens – nicht verschwiegen werden.[17] Dass eine geistliche Begleitung kein einmaliges punktuelles Ereignis, sondern einen lebenslangen, beiderseitigen Weg darstellt, versteht sich aus diesen Ausführungen wohl von selbst.

Wenn meine hier leider nur kursorischen und stark verkürzten Überlegungen im Rahmen der Thematik „Impulse für die priesterliche Identität von heute“ vorgetragen wurden, dann möchte ich – trotz oder gerade wegen der inhaltlichen und auch kulturell bedingten Grenzen und Fragen – darauf hinweisen, dass diese Überlegungen auch für den katholischen Westen nicht nur interessante Perspektiven bereithalten, sondern durchaus wertvolle, ja wesentliche Anstöße für eine erneuerte – im Hl. Geist gelebte – priesterliche Identität zu geben imstande sind. Es darf Papst Franziskus zitiert werden, der in seiner Ansprache vom 26. Juni 2013 im Rahmen der Frühmesse in der Domus Sanctae Martae ausdrücklich von der Freude der pastoralen Vaterschaft gesprochen hat.[18] Letztlich geht es auch darum, was die westliche spirituelle Tradition als mystisch bezeichnet hat und worum es in aller Mystik einzig und allein geht. Oder um es noch treffender mit den Worten von Karl Rahner zu tun: „Der Fromme von morgen wird ein ‚Mystiker‘ sein, einer, der etwas ‚erfahren‘ hat, oder er wird nicht mehr sein, weil die Frömmigkeit von morgen nicht mehr durch die im Voraus zu einer personalen Erfahrung und Entscheidung einstimmige, selbstverständliche öffentliche Überzeugung […] aller mitgetragen wird […]. Die Mystagogie muss von der angenommenen Erfahrung der Verwiesenheit des Menschen auf Gott hin das richtige ‚Gottesbild‘ vermitteln, die Erfahrung, dass des Menschen Grund der Abgrund ist: dass Gott wesentlich der Unbegreifliche ist; dass seine Unbegreiflichkeit wächst und nicht abnimmt, je richtiger Gott verstanden wird, je näher uns seine ihn selbst mitteilende Liebe kommt.“[19]

II. Geistliche und leibliche Vaterschaft aus der Sicht eines verheirateten Priesters

Ivan Kachala

Wenn man im Kreis der lateinisch geprägten Christen über die geistliche Vaterschaft in der Ostkirche spricht, über deren Verständnis, Bedeutung und Aktualität heutzutage, bekommt man, so glaube ich, viele Rückfragen der Zuhörerinnen und Zuhörer. Denn zum Dienst eines geistlichen Vaters, was vom Begriff her auf eine enge Beziehung im Geist zwischen Vater und Tochter bzw. Sohn, verweist, wird man erst dann befähigt, wenn beide, geistlicher Vater und geistlicher Sohn bzw. geistliche Tochter, den Willen Gottes zu verstehen versuchen. Zum geistlichen Vater kann man sich nicht durch verschiedene Kurse oder Seminare ausbilden lassen, sondern diese Vaterschaft gründet vielmehr in der engen Beziehung der Begleitenden selbst zu Gott bzw. in der Führung seines eigenen geistlichen Lebens, sodass sein Leben als Vorbild zur Nachahmung für andere gereicht.

Zwar steht in Mt 23,9 das Verbot, keinen hier auf Erden als „Vater“ zu bezeichnen, „denn nur einer ist der Vater, der im Himmel ist“. Dennoch beriefen sich die ersten Christen auf das Wort des Paulus in 1 Kor 4,15: „Selbst wenn ihr in eurem Christenleben Tausende von Erziehenden hättet, so habt ihr doch nicht eine Vielzahl von Vätern. Als ich euch das Evangelium brachte, habe ich euch gezeugt als Menschen, die zu Jesus Christus gehören, und bin so euer Vater geworden.“ Vor diesem Hintergrund nämlich entstand das Verständnis geistlicher Vaterschaft oder auch geistlicher Mutterschaft. Indem man den anderen den Glauben vermittelt und zu Christus führt, wird dieser sozusagen geistlich gezeugt, ja wird zum neuen Leben aus dem Wasser und Geist geboren (vgl. Joh 3,5). Kein Wunder, dass die Gründer des monastischen Lebens wie z. B. Antonius, Pachomius oder Makarius von den Neubekehrten und zum Glauben Gekommenen als geistliche Väter bezeichnet wurden.

Im Vergleich zu den oben erwähnten Koryphäen des geistlichen Lebens kann man sich fragen, ob das 21. Jahrhundert solche oder ähnliche Väter als Vorbilder im Glauben und in Nachfolge braucht? Und des Weiteren entsteht die Frage, ob ein verheirateter Priester, der üblicherweise im Osten von den Gläubigen als Vater bezeichnet wird, seinem Dienst gerecht wird, da er noch eine eigene Familie hat. Und wenn ja, was wäre das Spezifikum eines Familienvaters, der zugleich geistlicher Vater für seine Gemeinde ist?

In Hebr 1,5 spricht Gott selbst zu Jesus: „Ich will für ihn Vater sein und er wird mein Sohn sein.“ So entsteht die zutiefst reziproke Beziehung, dass der geistliche Vater vom Willen erfüllt ist, Vater für den Sohn zu sein, und der Sohn nimmt teil am Sein des Vaters, indem er Sohn ist. Es gibt keinen Sohn ohne Vater sowie keinen Vater ohne Sohn.

Über diesen theoretischen Teil hinaus, den man vielfach in der Literatur nachlesen kann, in der sich die geistlichen Erfahrungen Einzelner niederschlagen, möchte ich an dieser Stelle meine eigenen persönlichen Erfahrungen teilen:

Ich bin also beides: leiblicher Vater meiner drei Kinder, die ich mit meiner Ehefrau erziehen darf, und ich bin auch Spiritual, anders ausgedrückt, geistlicher Begleiter, oder noch einmal anders ausgedrückt, geistlicher Vater für die Seminaristen des Collegium Orientale in Eichstätt. Mein ungeteiltes Herz pocht für zweierlei Kinder, und ich denke in meinen Gebeten genauso an meine leiblichen wie auch an meine geistlichen Kinder. Aus den Erfahrungen der Familie, die man tagtäglich sammelt, gewinne ich den Unterricht oder besser gesagt die Einsicht für meine geistlichen Kinder, um sie verstehen zu können. Ohne Zwang oder Drängen ist es mir ein wichtiges Anliegen, dass sie für sich selber entscheiden lernen und in Freiheit handeln, denn der Apostel Paulus hat in Gal 5,13 gesagt: „Denn ihr seid zur Freiheit berufen, Brüder und Schwestern. Nur nehmt die Freiheit nicht zum Vorwand für das Fleisch, sondern dient einander in Liebe!“ Somit sehe ich meinen Dienst als Dienst in der Liebe zu den anderen. Ich bedränge auch niemanden mit lästigen Fragen, auf die er oder sie momentan nicht eingehen möchte, sondern ich gebe jedem und jeder den inneren Freiraum zum eigenständigen Handeln, zum Sammeln eigener Erfahrungen, auch wenn dies vielleicht sozusagen „in der Fremde“ geschieht. Ein sprechendes Beispiel dafür finde ich in Lk 15, in der Parabel vom barmherzigen Vater. Sobald der jüngere Sohn seinen Willen geäußert hat, wegzugehen, zeigt der Vater Verständnis und akzeptiert seine Entscheidung, obwohl es ihm weh tut, seinen Sohn gehen zu lassen. Mit der Erfahrung aus der Fremde kehrt der Sohn zurück in sein Vaterhaus, und in den Umarmungen des Vaters wird ihm wieder seine Sohnschaft geschenkt. Als geistlicher Vater halte niemanden fest, als ob er mein Eigentum wäre, und ich versuche niemanden, geistlich zu manipulieren, auch wenn es mir manchmal weh tut, den einen oder anderen seinen Weg gehen zu lassen. Als Familienvater bringe ich folgendes Beispiel: Das fünfjährige Kind sieht gereifte Kirschen am Kirschbaum und bittet seinen Vater, ihm diese zu pflücken. Der Vater aber, anstatt die Kirschen selber zu pflücken und dem Kind zu geben, reicht dem Kind ein Werkzeug, damit es selber den Ast des Kirschbaums zu sich holt und die Kirschen pflückt. Hätte der Vater anders gehandelt, hätte das Kind nie gelernt, selbstständig zu werden. Ähnlich ist es auch auf der geistlichen Ebene. Wie der Vater das Kind beim Kirschenpflücken begleitete, so begleitet ebenfalls der geistliche Vater sein geistliches Kind. Die gleiche Logik lässt sich auch z. B. bei den Altvätern erkennen: Sie bedienten sich vielerlei Zeichen und Werkzeuge, um auf die Wahrheit oder eine Lebensweisheit hinzuweisen.

Die beiden Dimensionen miteinander zu verbinden, zum einen in der Familie leiblicher Vater und zum anderen in der Gemeinde geistlicher Vater zu sein, ist keineswegs einfach. Dieser Dienst verlangt neben dem Gebetsleben und der Askese auch Selbstdisziplin, einen strukturierten Arbeitsalltag, genaue Planung der Termine und schließlich Opferbereitschaft. Es ist eine Herausforderung, dass weder die Familie noch die geistliche Vaterschaft zu kurz kommen. Ohne Zweifel ist es manchmal ein Spagat zwischen all den Aufgaben und Verpflichtungen in der Familie und denen in der Gemeinde, aber Impulse und gesammelte Erfahrungen in beiden Bereichen bereichern auch den, der sich bereichern lassen will.

Bei einem Elternabend in der Schule meines Sohnes wurde mehrmals betont, die Eltern sollten in der Zeit des Heranwachsens ihrer Kinder ihnen gleichsam „gute Freunde“ sein, indem man einander akzeptiert, wertschätzt und Freiraum zur Entwicklung schenkt. Dieser Gedanke brachte mich zum Nachdenken, denn in der geistlichen Vaterschaft handelt es sich mehr oder weniger um das gleiche Prinzip. Der geistliche Vater und sein geistlicher Sohn pflegen eine Freundschaft miteinander, sie gehen gemeinsam den Weg, der Christus selbst ist. Nicht von ungefähr sagt Christus in Joh 15,12–14 zu seinen Jüngern: „Liebt einander, so wie ich euch geliebt habe. Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt. Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch auftrage.“ In dem Auftrag Jesu, andere zu lieben, handelt auch der geistliche Vater in einer liebevollen Zuneigung zu seinem geistlichen Sohn. Die bekannte koptische Ikone aus dem sechsten Jahrhundert n. Chr., auf der Christus und Abt Mena dargestellt sind, zeigt einige charakteristische Züge dieser Freundschaft. Christus hat seinen rechten Arm liebevoll um Menas gelegt und seine Hand ruht auf dessen Schulter. Die Geste geht von Jesus aus – eine Geste der Kameradschaft, der Verbundenheit, der Freundschaft. Eine Geste auch, die Kraft spendet, die ermutigt und stärkt. Christus hat keine Angst vor Berührungen, er nimmt am Leben des Menas teil; er freut sich mit ihm und trauert mit ihm. Ein Gedanke, den vielleicht Papst Franziskus dazu inspiriert hat, davon zu sprechen, der Hirte müsse nach seinen Schafen riechen.

Zwei solcher Hirten, die gleichsam diesen Geruch ihrer Schafe angenommen hatten, möchte ich Ihnen vorstellen. Beide waren Priester und beide verheiratet, einer griechisch-katholisch und aus der Ukraine, der andere orthodox, in Estland geboren, in Frankreich aufgewachsen und später in den USA tätig. Diese beiden sind der selige Emilian Kovch, der mit seiner Ehefrau Anna-Maria sechs Kinder hatte, und Alexander Schmemann, der mit seiner Ehefrau Uliana drei Kinder erzog. Für beide Priester waren ihre Familien immer ein Stützpunkt und eine Quelle neuer Kraft. Eine der Töchter von Emilian Kovch erzählt von ihrem Vater folgendes: Er habe seine Kinder sehr geliebt, und überhaupt liebte er alle Kinder und hatte ein großes Herz für sie, besonders für Waisenkinder, die manchmal über längere Zeit bei ihnen wohnten, bis der Vater für sie ein Heim oder eine Pflegefamilie fand. Als Kinder seien sie diszipliniert erzogen worden und hatten Respekt vor ihrem Vater. Der Vater setzte nämlich immer Zeichen der Liebe und dank diesen – es geht nicht nur um die Feier der Gottesdienste, die Beichte oder andere liturgische Angelegenheiten – war er selber sehr beliebt. Aufgrund der Zeichen und Gesten im Alltag wurde der selige Emilian von seiner Gemeinde als „unser Vater“ bezeichnet, und diesem geistlichen „Vatersein“ blieb er treu bis zum Märtyrertod.

In seinem Tagebuch schreibt Alexander Schmemann, dass er mit seiner Ehefrau und seinen drei Kindern sehr glücklich war. Aber was ist Glück, fragt er sich? „Wollten ich und meine Ehefrau dieses offensichtliche Glück umschreiben, wir würden es sicherlich auf verschiedene Weise tun, darum verzichten wir darauf, denn so würde sich der Himmel dieses Glücks bewölken. Glück braucht keine Worte.“[20] Als Priester und Theologe setzte er auch Zeichen und Gesten in seinen Vorlesungen, Vorträgen, Reisen und in seinem ganzen Dienst. An seinen Aufzeichnungen lässt sich ablesen, wie sehr die Seelsorge für ihn als Priester wesentlich war. Manche Gespräche oder Unstimmigkeiten mit den Gläubigen beschäftigten ihn so sehr, dass er darüber noch lange nachdachte, viele hat er auch in seinem Tagebuch aufgezeichnet.

Zusammenfassend kann man sagen, dass Leben und Handeln dieser beiden leiblichen und geistlichen Väter einige Schwerpunkte aufwiesen, die auch für die geistliche Vaterschaft von heute von Relevanz sein können:

  • Erstens das Vertrauen auf Gott und eine asketische Haltung, also der Verzicht auf eigene Vorteile.
  • Zweitens die Familie, d. h. man sollte darauf achten, aus welcher Familie jemand kommt. Denn die frühen Erfahrungen, mögliche Verletzungen in den ersten Lebensjahren, die nicht aufgearbeitet wurden, können dann auch das geistliche Voranschreiten des Begleiteten blockieren.
  • Drittens die väterliche Teilnahme am Leben und an der Entwicklung des geistlichen Kindes sowie die Hilfsbereitschaft auf Seiten des geistlichen Vaters.
  • Und viertens: Zeichen setzen und Zeichen sein und diese mit dem eigenen Lebenszeugnis bekräftigen. Denn nur ein vom geistlichen Vater gesetztes Zeichen kann das geistliche Kind für sein ganzes geistliches Leben prägen, indem es seinerseits diese Prägung weitergeben wird.

[1] Hermann Hesse: Das Glasperlenspiel (Das erzählerische Werk, Bd. 5, hg. v. Volker Michels), Berlin 2012, 450ff.

[2] Anselm Grün: Geistliche Begleitung bei den Wüstenvätern (Münsterschwarzacher Kleinschriften; 67), Münsterschwarzach 92006. Vgl. auch Daniel Hell: Die Sprache der Seele verstehen. Die Weisheit der Wüstenväter, Freiburg i. Br. 2019.

[3] Was in den folgenden Ausführungen über die geistliche Vaterschaft gesagt wird, gilt mutatis mutandis auch für die das weibliche Pendant, die geistliche Mutterschaft. Da aber diese Überlegungen im Rahmen der übergeordneten Thematik „Impulse für die priesterliche Identität“ vorgetragen wurden, werde ich hinkünftig „nur“ von der geistlichen Vaterschaft sprechen. Nicht unerwähnt sei in diesem Zusammenhang ein noch immer äußerst wertvoller Artikel von Andreas Müller aus dem Jahre 1999, der m. E. bis heute nichts von seiner Aktualität verloren hat: Andreas Müller: Geistliche Väter als Lebensbegleiter. Ein Beitrag zur Seelsorgepraxis in der ostkirchlichen Orthodoxie. In: Internationale Kirchliche Zeitschrift 84 (1999) 209–251.

[4] Müller, Geistliche Väter (wie Anm. 3), 227ff. Dort auch Literaturhinweise zum Phänomen der geistlichen Begleitung im Rumänien des 20. Jahrhunderts.

[5] Gottfried Glassner: Erneuerung im Zeichen der Mönche. Das Aufblühen der koptischen Klöster und das Reformwerk des Mattȃ al Maskȋn. In: Albert Gerhards/Heinzgerd Brakmann (Hg.): Die koptische Kirche. Einführung in das koptische Christentum (Urban Taschenbücher; 451), Stuttgart 1994, 93–104.

[6] Erwähnen möchte ich an dieser Stelle die mittlerweile auch in deutscher Übersetzung erschienenen Veröffentlichungen des amerikano-zypriotischen Soziologen Kyriacos C. Markides, wie etwa: Der Berg des Schweigens. Begegnung mit einem christlichen Meister (2015), Der Friede des Herzens (2020) und vor allem: Der Fluss des Lebens (2021), in denen der Autor seine persönlichen Gespräche mit seinem geistlichen Vater, dem ehemaligen Abt des Klosters Machairas auf Zypern und nunmehrigen Metropoliten von Limassol/Lemessos beschreibt. Hier wird sehr deutlich, dass geistliche Vaterschaft eine persönliche Beziehung aufzubauen imstande ist, die auch über weite geographische Entfernungen bestehen bleibt und über die vielen Jahre nichts von ihrer Frische und Lebendigkeit verliert. Die hier dargelegten Erfahrungen führen uns direkt zur Frage der Persönlichkeit eines geistlichen Vaters, wie sie uns in den Schilderungen von Markides sehr deutlich vor Augen geführt wird. Auch wenn der Personenkreis um den Metropoliten vor allem aus griechisch-orthodoxen Christinnen und Christen zypriotischer Prägung besteht, wird der nationale und konfessionelle Charakter des Metropoliten dank der Schilderungen von Markides immer wieder zugunsten eines allumfassenden ursprünglichen „mystischen Christentums“ erweitert.

[7] Hesse, Glasperlenspiel (wie Anm. 1).

[8] Peter Seewald: Salz der Erde. Christentum und katholische Kirche an der Jahrtausendwende, Stuttgart 1996.

[9] Rudolf Prokschi/Marianne Schlosser/Florian Kolbinger (Hg): Vater, sag mir ein Wort. Geistliche Begleitung in den Traditionen von Ost und West, Würzburg 2007.

[10] Siehe die oben Anm. 6 erwähnten Veröffentlichungen von Markides.

[11] Müller, Geistliche Väter (wie Anm. 3), 240.

[12] Ebd., 241f.

[13] Ebd., 242.

[14] Ebd., 243.

[15] Ebd., 247f.

[16] Ebd., 249. Erwähnt sei in diesem Zusammenhang die berühmte Ballade von Friedrich Schiller „Der Kampf mit dem Drachen“, in der der Dichter dem Ordensmeister die Worte in den Mund legt: „Mut zeiget auch der Mameluck, Gehorsam ist des Christen Schmuck!“ Vgl. auch die Gedanken von Dorothee Sölle: Phantasie und Gehorsam. Überlegungen zu einer künftigen christlichen Ethik, Stuttgart 1968.

[17] Zum möglichen Missbrauch des Starzentums vgl. Andreas Müller: Geistliche Vaterschaft und Führung in der Tradition des kirchlichen Ostens. In: Marco Sorace (Hg.): Die Gottesliebe der Sufis. Islamische und christliche Mystik im Dialog, Nordhausen 2010, 48–55, hier: 53–55.

[18] Zitiert nach: Papst Franziskus, Ansprache im Rahmen der Frühmesse im Vatikanischen Gästehaus „Domus Sanctae Martae“: Die Freude der pastoralen Vaterschaft, Mittwoch, 26. Juni 2013. In: L’Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, Nr. 27, 5. Juli 2013.

[19] Karl Rahner: Frömmigkeit früher und heute (Schriften zur Theologie; 7), Einsiedeln 1966, 22f.

[20] Alexander Schmemann: Aufzeichnungen 1973–1083, Freiburg 22013, 31.