Menschliche Reife des Priesters

In seinem Buch „Lebenskultur des Priesters“, 1998 beim Herder-Verlag erschienen, bringt Theologieprofessor und Familienvater und Autor Hubertus Brantzen das folgende Beispiel aus dem Leben eines Priesters. Ein Priester lebte sein Priestersein sehr stark aus der Vorstellung, immer für seine Gemeinde da zu sein. Das wurde von der Gemeinde zunächst auch wohlwollend honoriert. Doch drückte sich seine Vorstellung vom „Dienst der Einheit“ darin aus, daß er keinem widersprechen konnte. So passierte es, daß er in einem Augenblick dem einen mit seiner Meinung recht gab, in nächsten Moment einem anderen, der das genaue Gegenteil vertrat. Das führte zunehmend zu Spaltungen“. Dieser Priester hängte sein Fähnchen nach dem Wind, anderes formuliert, er redete jedem nach dem Mund. Letztendlich verstand er die Gemeinde nicht mehr und die Gemeinde ihn. Er wollte doch das Beste, alle in Harmonie zusammenzuhalten.[1]

Wo war das Problem? Und woran muss man arbeiten, dass so eine Situation oder ähnliche in meinem Priesterleben nicht vorkommt?

Ein Mensch, so Brantzen, der sich seiner selbst nicht sicher ist, kann nicht widerstehen. Ihm fehlt eine innere Person-Mitte, von der aus er in aller Ruhe, mit aller Klarheit die Ereignisse um sich herum betrachten und seine Kreise ziehen kann. So ein Mensch ist wie ein Zirkel, der für jeden Kreis, den er zeichnen möchte, einen neuen Ort braucht, an dem er seine Zirkelspitze festmachen kann: ein Mensch, der keinen Standpunkt in sich selbst ausgebildet hat, sondern nur viele „Hüpf-Punkte“, auf denen er springen kann, um jedem gerecht zu werden. Das Beispiel vom Priester zeigt, dass dieser mehr Angst vor Ablehnung hatte, dass ihn Menschen weniger mögen, darum passte er sich der Meinung des Gesprächspartners an und lieferte sich dem Lob und Tadel des anderen aus. An dieser Stelle ist natürlich zu unterscheiden zwischen zwei Extremen: Unterschieden werden muss also zwischen der eigenen gesunden Mitte, eigener Linie, eigenem Stand-Punkt und dem fanatischen, idealistischen Vorstellung, weit von der Realität entfernt. Wiederrum passt hier das Bild vom Zirkelkreis. Nur diejenigen, die sich in dem Kreis bewegen, sind sozusagen rechtgläubig, rein und fromm, die, die aber außerhalb des Kreises sind, gelten als „verdammt“.

Liebe Kollegiaten! Was ist eigentlich in unserem Vermögen, um nicht von einem Extrem zu anderem zu schaukeln? Nicht nach dem Mund zu reden und keine Sekte um sich zu bilden: eine Kunst, ein Charisma der pastoralen Klugheit. Pastorale Klugheit, andere Eigenschaften und überhaupt das geistliche Leben des Priesters basieren zunächst auf menschlicher Natur. Das Fundament für alles weitere ist ja menschliche Dimension bzw. menschliche Reife. Darum wird diese Dimension zuallererst, neben der geistlichen, intellektuellen und pastoralen, auch in Ratio Fundamentalis §§93-100 betont. Eine rechte und harmonische Spiritualität erfordert eine gut strukturierte menschliche Natur. Der hl. Thomas von Aquin sagt, „tatsächlich setzt die Gnade die Natur voraus“ und ersetzt sie nicht, sondern vervollkommnet sie. Die menschliche Bildung ist das Fundament der ganzen Priesterbildung. Sie fördert das umfassende Wachstum der Person und ermöglicht, auf dieser Basis alle Dimensionen zu formen. Physisch geht es um Aspekte wie Gesundheit, Ernährung, Bewegung und Ruhe; psychologisch um die Bildung einer stabilen Persönlichkeit, die von affektiver Ausgeglichenheit, von Selbstbeherrschung und von einer gut integrierten Sexualität geprägt ist. Moralisch erfordert sie, dass der Mensch zunehmend eingebildetes Gewissen erlangt. Er muss eine Person mit Verantwortungsbewusstsein werden, die fähig ist, richtige Entscheidungen zu treffen, die vernünftig urteilen und Personen und Ereignisse objektiv wahrnehmen kann. Diese Wahrnehmungsfähigkeit leitet den Seminaristen zu einer ausgewogenen Selbstachtung an, die ihn dazu bringt, sich seiner Talente bewusst zu werden und zu lernen, sie in den Dienst des Volkes Gottes zu stellen.

Der Humus der Berufung zum priesterlichen Dienst ist die Gemeinschaft, insofern der Seminarist aus dieser kommt und nach der Weihe zu ihr gesandt wird, um ihr zu dienen. Zunächst braucht der Seminarist und dann der Priester eine vitale Bindung an die Gemeinschaft. Sie ist wie ein roter Faden, der die vier Ausbildungsdimensionen in Einklang bringt und vereint.

Meine Lieben! Kann die menschliche Reife jenes Tages abgeschlossen sein? Oder ist und bleibt sie ein lebenslanger Prozess? Ich glaube, dass jeder von uns nur auf dem Weg zur Lebensreife ist. Um menschlich reif zu sein als Voraussetzung zum Priester geweiht zu werden, braucht man mindestens zwei Faktoren: Zeit und Auseinandersetzung mit eigener Person. Zu Reife gibt es keine Abkürzung. Das beste Beispiel sind Früchte. Sie brauchen ihre Zeit bis sie reif und genießbar sind. „Seid doch nicht Kinder an Einsicht, Brüder und Schwestern! Seid unmündig an Bosheit, an Einsicht aber seid vollkommen“, (1 Kor 14,20) anderes ausgedruckt seid reife Menschen!

Was kennzeichnet also einen reifen Menschen?

  • Fähigkeit, physisch, intellektuell und emotional mit voller Leistung zu handeln
  • Fähigkeit, sich wechselnden Situationen mit Selbstkontrolle und Disziplin anzupassen
  • vertrauensvolle Haltung, mit ein wenig Humor „gewürzt“
  • Fähigkeit eigene Gefühle auszudrücken und zu kontrollieren
  • Fähigkeit, sich auf andere Menschen zu konzentrieren
  • Klares Lebensziel: Lebensziel prägt Lebensstil
  • Beziehungen zu verschiedenartigen Menschen
  • Ausgeglichenheit und Zuverlässigkeit des Menschen
  • Gleichgewicht und ein gesundes Maß in allem

„Reifen wie der Baum,
der seine Säfte nicht drängt
und getrost in den Stürmen des Frühlings steht,
ohne Angst,
dass dahinter kein Sommer
kommen könnte.

(Reiner Maria Rilke, Über die Geduld, 1903)

Zum Nachdenken:

Ein reifer Mensch kann sich mit seinen Schwächen und Schattenseiten („Rucksackthemen“) auseinandersetzen, weil er diese kennt und denen man sich stellen sollte, und zwar ohne Zorn und Eifer.[2] Wer seine eigenen Begabungen und Talente nicht schult, der kann nicht reifen, denn werden Talente nicht genützt, kann es sein, dass sie sich gegen einen selbst richten. Ein Mensch, der sozial begabt ist und aus Trägheit etwas völlig anderes macht, wird früher oder später übellaunig und grantig. Reife Menschen bewahren sich ein Stück „verzauberte Seele“, d.h., sie wissen, dass nicht alles im Leben berechenbar  und planbar ist. Sie haben ein Gespür für die Wunder dieser Welt, die sie auch in der Begegnung mit besonderen Menschen finden können. Menschen, die gereift sind, agieren voll Achtung und Fürsorge und benützen weder Mitmenschen noch die Welt nur für ihre Zwecke. Reife hat man nicht, sondern man erlernt sie schrittweise. Menschen auf dem Weg zur Reife tun nicht alles, was sie tun könnten, und sprechen auch nicht alles aus, was sie sagen könnten. Das Leben stellt Fragen und wir sind aufgefordert, zu antworten, wobei man an diesen Herausforderungen – Höhen wie Tiefen – zerbrechen oder reifen und wachsen kann. Man kann die Fähigkeit entwickeln, Niederlagen in das eigene Leben zu integrieren. Ein reifer Mensch ist nicht wegen jeder Kleinigkeit frustriert und auch nicht so leicht kränkbar. Die Liebe zur Weisheit ist ein gutes Indiz für Reife, denn Menschen, die sich für die guten Gedanken der Welt interessieren, sind auf dem Weg, weise zu werden, was aber nichts mit dem Alter zu tun hat.

Die Lebensaufgabe eines Menschen ist es,  Verstand und Gefühl in Einklang zu bringen und auf der Suche nach Veränderungen den Boden unter den Füßen nicht zu verlieren. (Fritz Riemann)


[1] Vgl. H. Brantzen, Lebenskultur des Priesters. Ideale – Enttäuschungen – Neuanfänge, Freiburg u. a. 1998, hier 102f.

[2] Acht Punkte von Psychologin Boglarka Hadinger, siehe unter https://sites.google.com/site/solokabarett/lebenshilfe/menschliche-reife