Psychologie des menschlichen Lebens: Existentielles Vakuum nach V. E. Frankl

Er war einer, der die Berge liebte, ein begeisterter Bergsteiger und-wanderer, der mit 67 Jahren fliegen lernte. Er war einer der bedeutendsten Wissenschaftler in der Medizin, einer, der das Denken und das Handeln des Menschen zu verstehen versuchte. Er suchte nach dem Sinn des menschlichen Lebens. Und er war einer der wenigen, der vier Konzentrationslager überlebt hat.

Liebe Kollegiaten! Viktor E. Frankl ist diese Person, die ich gerade beschrieben habe. Viktor Frankl (1905–1997) war ein österreichischer Neurologe, Psychiater und Holocaust-Überlebender. Er ist der Begründer der Logotherapie, einer Form der Existenzanalyse. Der Kern seiner Philosophie dreht sich um den Willen zum Sinn. Im Gegensatz zu Freud, der den Menschen als getrieben von Lust (Libido) sah, und Adler, der den Machttrieb als zentral ansah, war Frankl überzeugt, dass der Mensch in erster Linie nach Sinn strebt. Diese Suche nach Sinn ist es, die das menschliche Leben wertvoll und erfüllend macht.

In Konzentrationslagern sah Frankl Menschen, die einen inneren Sinn für ihr Leben gefunden hatten, und deshalb oft eine größere Widerstandsfähigkeit gegenüber den unmenschlichen Bedingungen besaßen. Dieser „Wille zum Sinn“ wurde das Fundament seiner therapeutischen Methode.

Warum wollen wir uns heute diesem Thema widmen? Was hat das mit der geistlichen Ausbildung zu tun? Und schließlich, gibt es Berührungspunkte zwischen Frankl und Jesus?

In Zeiten der Kriege zu leben und zu studieren ist keineswegs einfach, denn jeder Krieg bringt Opfer mit sich sowie psychische Belastung. Politische Spannungen in der Slowakei, die Unruhe in Georgien, die Spannungen zwischen Indien und Pakistan, der Bürgerkrieg in Äthiopien, die Verwüstung und Zerstörung in Syrien, kriegerische Auseinandersetzung im Nahen Osten und schließlich der Krieg in der Ukraine: all das ist unsere Realität heute, eine Realität, in der wir vielleicht nur existieren, aber nicht leben; eine Realität, in der man Deutsch lernt, Lizenziat oder Promotion schreibt und Prüfungen ablegt. In dieser Zeit fragt man sich nach dem „Warum“? „Wie lange noch“? Ja, nach dem Sinn all dessen und des eigenen Seins und Tuns?

Schon damals, in den 70. Jahren letzten Jahrhunderts bemerkte Frankl, dass viele Menschen den Sinn im Leben im „Außen“ suchen, aber nicht in ihrem Sein; ihnen fehlt der Wille zum Sein.[1] Untersuchungen Frankls ergaben, dass 80% der Studierenden unter fehlendem Lebenssinn leiden, Tendenz steigend. Frankl nennt dieses Phänomen „existentielles Vakuum“, mit anderen Worten: Den jungen Menschen mangelt es an innerem Lebensinhalt. Im Gegensatz zum Tier haben Menschen  keine Instinkte, die ihn zielsicher leiten und dem modernen Menschen sagen keine Traditionen mehr, wie er leben soll; und oft scheint er nicht mehr zu wissen, was er eigentlich will. Umso mehr ist er darauf aus, entweder nur das zu wollen, was die anderen tun, oder das zu tun, was die anderen wollen. Im ersteren Falle haben wir es mit Konformismus, im letzteren mit Totalitarismus zu tun.[2] Unter dem Konformismus versteht man Anpassung der eigenen Einstellung an die herrschende Meinung, Mainstream würde man heute sagen. Fehlender Lebenssinn kann den Menschen gleichgültig werden lassen zu dem, was er tut, und zu dem, was er ist. Andererseits können diese Sinnlosigkeitsgefühle den Menschen zu einer übertriebenen Selbst-Interpretation verleiten. Diesbezüglich bedient sich Frankl eines einfachen Beispiels: „Wie der Bumerang zum Jäger, der ihn wirft, nur dann zurückkehrt, wenn er das Ziel, die Beute, verfehlt, so wendet sich der Mensch erst dann sich selbst zu, ist er erst dann so sehr mit der Interpretation seiner selbst befasst und beschäftigt, wenn sein ursprüngliches Anliegen gescheitert ist, wenn er auf der Suche nach einem Sinn frustriert ist.“[3]

Die Selbst-Interpretation nach Frankl führt dann zur Selbst-Verwirklichung als Ziel des menschlichen Daseins, was aber falsch ist. Denn der Mensch kann sich letzten Endes nur in dem Maße verwirklichen, in dem er einen Sinn erfüllt – und zwar draußen in der Welt. Das heißt, wenn ich als Mensch einen Sinn entdecke in dem, was ich tue und was ich bin, werde ich erfüllt; ich werde dann auch das Leben in Fülle haben. Jeder Mensch sucht nämlich nach dem Sinn. Und dieser Sinn ist nicht er selbst, sondern jemand anderer oder eine Sache, die er sich zu eigen macht. Der Sinn erfüllt sich immer nur im „Tun“, ja im Dienst am anderen.

Des Weiteren so Frankl, braucht der Mensch den starken Willen zum Sinn, einen Willen, der oft auf Kosten des Komforts sich niederschlägt. Wenn aber der Wille zum Sinn frustriert ist, treten dann der Wille zur Macht und der Wille zur Lust auf: solche Menschen können gewalttätig und vergnügungssüchtig werden. Der Wille zur Macht und der Wille zur Lust kompensieren und ersetzen manchmal sogar den Willen zum Sinn. Ein paradoxer Gedanke von Frankl: Je mehr es dem Menschen um Lust und Vergnügung geht, um so mehr vergeht ihm die Lust auch schon. Je mehr er nach Glück jagt, umso mehr verjagt er es auch schon. Jeder Mensch will ja glücklich sein. Was er aber in Wirklichkeit will, ist nämlich einen Grund dazu zu haben. Und hat er einmal diesen Grund, so stellt sich das Glückgefühl von selber ein. Wenn der Mensch aber nur das Glückgefühl anpeilt, verliert er den Grund zum Glück aus den Augen und verfehlt das Glücksgefühl.

Im Leben geht es nicht um Sinngebung, sondern um Sinnfindung. Auf der Suche nach dem Sinn im Leben wird der Mensch von seinem Gewissen geleitet – das Gewissen sieht Viktor Frankl als „Sinn-Organ“. Doch auch das Gewissen kann täuschen. Bis zum letzten Atemzug wird der Mensch nie sicher wissen, ob er den Sinn seines Lebens wirklich erfüllt hat oder sich in etwas getäuscht hat. Deshalb braucht er Vertrauen in eine höhere Instanz, denn es kann nur eine einzige Wahrheit geben.

Auf drei Wegen kann der Mensch einen Sinn auch finden, und zwar: Zunächst im Tun und Schaffen. Zweitens: Im Erleben, in der Liebe und schließlich im Umgang mit hoffnungslosen Situationen; viele Situationen kann man nicht ändern, aber unsere Haltung und Einstellung wohl.

Wir leben heute in einer Zeit, in der viele Menschen das Gefühl haben, dass das Leben keinen Sinn hat. In dieser Zeit sollte die Erziehung nicht nur Wissen vermitteln, sondern auch das Gewissen schärfen, damit Menschen feinfühlig werden und die Anforderungen in jeder Situation erkennen können. Ein waches Gewissen ist heutzutage sehr wichtig – es macht Menschen widerstandsfähig gegen Konformismus und Totalitarismus. So ist heute Erziehung zur Verantwortung wichtiger denn je.

Darüber hinaus leben wir in einer Überfluss-Gesellschaft, nicht nur mit vielen materiellen Gütern, sondern auch mit einer Fülle an Informationen. Überfluss an Informationen, darunter auch Falschinformationen in Form von Bildern, Videos und Büchern. Ständig und überall sind wir Reizen ausgesetzt, nicht nur in sexueller Hinsicht. Um in dieser zunehmenden Reizüberflutung in der wachsenden digitalen Welt zu bestehen, muss der Mensch lernen, das Wichtige vom Unwichtigen und das Sinnvolle von Sinnlosen zu unterscheiden.

Auch manche alte Moralvorstellungen und traditionelle Werte verlieren an Einfluss. Stattdessen ist es besser gut und schlecht/böse daran zu messen, ob es dem Sinn des Lebens dient – oder nicht. Was dem Leben hilft, es erfüllt, ist gut, und was es behindert, ist schlecht/böse. Werte kann man nicht lehren – man muss sie im Leben lernen. Auch kann man dem Leben anderer keinen Sinn geben, sondern nur ein Beispiel mit dem eigenen Leben geben.

Ein Verantwortungsgefühl in Angesicht unserer Freiheit ist die Grundlage, um Menschlichkeit zu bewahren. Je stärker das Verantwortungsgefühl eines Menschen ist, desto weniger wird er das Gefühl der inneren Leere verspüren. Es ist auch hilfreich sich die Frage zu stellen: Wem gegenüber bin ich verantwortlich in Bezug auf mein Leben? Die Antwort ist: Gott. Das zeigt, dass Verantwortlichkeit immer mit einem „vor“ und einem „zu“ verbunden ist. Ich bin verantwortlich vor Gott und zum Leben.

Liebe Kollegiaten! Nach acht Jahren Dienst als Spiritual im Collegium Orientale scheint mir naheliegend, dass man Ihnen in den Ausbildungsjahren nicht mehr und nicht weniger geben kann als Verantwortungsgefühl für das Leben überhaupt sowie für das geistliche Leben, für die lebendige Beziehung zu dem, der der Logos – der Sinn unseres Lebens ist, zu dem, der als größter Psychologe gesagt hat: „Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben“ (Joh 10,10). Oder ein paradoxer Gedanken von Dem, in dessen Nachfolge wir stehen wollen: „Wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen verliert, wird es finden“(Mt 16,25). Leben finden heißt den Willen zum Sinn finden. Amen.


[1] Vgl. hier und im Folgenden, V. E. Frankl, Der Wille zum Sinn: Ausgewählte Vorträge über Logotherapie, Bern u.a. 1972, hier 9-36.

[2] Ebd., 12.

[3] Ebd., 16.