Eine Studie des Freiburger Forschungszentrums hat im Mai 2020 für Aufregung gesorgt. Danach wird die Zahl der Christen in Deutschland bis 2060 auf die Hälfte zusammenschrumpfen. Die Christen werden im Vergleich zur wachsenden Bevölkerung hierzulande zu einer Minderheit, von etwa 22 Millionen (heute sind es fast 45 Millionen). So lauten die Prognosen, die einerseits erschrecken, andererseits aber eine neue Aufbruchschance für die Kirche Christi bedeuten können. Seien wir ehrlich und behaupten nicht etwa, das betreffe weder mich noch meine Heimatskirche. Denn die Globalisierung kennt keine Grenzen. Früher oder später betrifft dies auch unsere Heimatländer. Über die Zeit betrachtet entscheidet nicht Quantität, sondern nur die Qualität der „Christen“ darüber, ob sie wirklich Jünger und somit Nachfolger Christi sind. Persönlich bin ich der Meinung, dass wir uns als Christen Schritt für Schritt in Richtung Urkirche bewegen. Das heißt: In Minderheit zu sein, in einer Diaspora zu leben, von der Mehrheit nicht mehr verstanden zu werden, in ihren Augen sonderbar bzw. altmodisch zu erscheinen. Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder wir passen uns der Mehrheit und dem Zeitgeist an und werden lauwarm wie Laodicea (vgl. Off 3,14ff.), oder wir bleiben, wie Christus sagt, Salz der Erde und Licht der Welt (vgl. Mt 5,13-16). Ich will keineswegs die Christen in der Welt zu einer „Sekte der Besseren“ machen, quasi zu Töchtern und Söhnen des Lichtes; Nein, das ist nicht der Sinn meines Vortrages. Aber ich will Sie, liebe Kollegiaten, auf die künftigen Herausforderungen aufmerksam machen und Ihnen die Wichtigkeit und die Ernsthaftigkeit unserer Berufung zeigen. Die Kirche Christi konnte vor mehr als 2000 Jahren alle Anfeindungen nur deshalb überstehen, weil sie einerseits von Christus gestiftet war und es ihr andererseits nie an lebendigen Zeugnissen gefehlt hat – an Menschen, die in ihrem Leben sowie in ihrem Tod Gott treu blieben. „Das Blut der Märtyrer ist der Samen der Christen“ – sagt Tertullian (apol. 50,13). Nach der Mailänder Vereinbarung (313) unter Konstantin und der Erklärung des Christentums zur Staatsreligion (380) unter Theodosius I. wandelte sich das Verständnis vom Martyrium bei den ersten Christen von der einmaligen Hingabe ihres eigenen Lebens für Christus, zu einem täglichen Martyrium in Askese und Treue zu Christus während des ganzen Lebens. Damals zogen viele in die Wüste und gründeten zahlreiche Klöster, wo sie dieses Märtyrer-Sein in der Einsiedelei oder in der Gemeinschaft praktizierten. Ihr Lebensbeispiel und auch das der einfachen Christen faszinierte andere, auch die Heiden, so dass sie sich später zu Christus bekannten. Diese überzeugten und „gläubig praktizierenden“ Christen strahlten Anziehungskraft aus und konnten so wiederrum anderen als Vorbilder dienen. Auf diese Weise entstand eine lebendige Kettenreaktion der Nachfolger Christi. Sie waren sich ihrer Berufung und ihrer Mission in der Welt bewusst und galten als Musterbeispiele der Christusnachfolge. Sie waren fähig, wie unser Bischof Gregor Maria am Missionssonntag zum Ausdruck brachte, „zu horchen und zu lauschen auf den Ruf Gottes“. Das ist auch unser Ziel hier im COr, den Ruf Gottes wahrzunehmen, wofür wir unsere Sinne wach halten und schließlich das Vernommene im Leben praktizieren müssen. Vielleicht verbirgt sich darin einer der Gründe, warum das Christsein nicht mehr „attraktiv“ ist und in der Gesellschaft an Bedeutung verliert und warum die Statistiken so deprimierend erscheinen. Weil viele Christen sich nicht ihrer Taufe und ihrer Berufung bewusst sind. Da funkt nichts mehr, weil alle Funkgeräte in ihnen: Ohren, Augen, Herz und Verstand, das Wesentliche nicht mehr empfangen. Der Frequenzbereich für den Empfang ist verschoben und Gottes Nachrichten werden abgeschirmt mit so genannter Freiheit, Wohlstand, Bequemlichkeit, Faulheit und vielem mehr. Hier lohnt es sich auch mal wieder über die sieben Wurzelsünden nachzudenken. Damit eine Umbruchsituation zu einem Aufbruch, ja zu einem neuen blühenden Beginn wird, braucht die Kirche heute wie damals lebendige Zeugnisse „des alltäglichen Martyriums“. Sie braucht Menschen, die das Christsein leben und bezeugen. Heute werden wie nie zuvor geistliche Vorbilder im Glauben und im Lebenswandel gebraucht, so genannte geistliche Väter und Mütter, Abba und Amma. Die Kirche benötigt dringend geistliche Leuchttürme, die den anderen als Orientierung dienen und ihnen den Weg weisen. Bei einem Mangel an solchen Leuchttürmen wird dieser „Leerraum“ in der Kirche mit anderen „Ersatzvätern“ oder „Ersatzerscheinungen“ gefüllt, wie Autoritarismus, Macht, Manipulation, Ausnutzung. Ein Leuchtturm spendet nicht nur Licht, sondern auch, wenn man ihm nahe ist, Wärme.
Einer, der Licht und Wärme verbreitete, war Abba Evagrios Pontikos (†399), über den folgendes überliefert ist: „Die Brüder versammelten sich bei ihm am Samstag und am Sonntag. Während der ganzen Nacht besprachen sie mit ihm ihre Gedanken. Sie lauschten seinen machtvollen Worten, bis das Licht aufging. Dann gingen sie voll Freude und lobten Gott. Denn seine Unterweisung war sehr sanft. […] Er war auch derart gastfreundlich, dass er in seiner Zelle täglich fünf bis sechs Fremde aufnahm, die von auswärts zu ihm kamen, um seine Unterweisungen, seinen Verstand und seine Askese zu hören. […] Diese große Einsicht hatte [Evagrios] durch Studium, persönliche Erfahrung und Gottes Gnade angesammelt“ (G. Bunge, Geistliche Vaterschaft, Regensburg 1988, 27f.) Allerdings, obwohl der geistliche Vater in seinem Wesen zugänglich, gütig und von sanfter Liebe ist, werden ihm niemals fremd Verleumdungen und Streitigkeiten seitens der Menschen, auf die er mit Schweigen und in Demut reagieren soll. Vielmehr soll er standhaft in allen Versuchungen bleiben und für alle beten (ebd. 44).
Lieber Seminarist / Diakon und Priester,
- bist Du auch fähig, Menschen zu sammeln, nicht etwa, um sie von Dir abhängig zu machen („Fanclub der Gleichgesinnten“), sondern, um sie zu Christus zu führen? Dein Alltag ist dafür geeignet. Dein Alltag ist die „moderne Wüste“
- kannst Du den anderen z.B. den Mitkollegiaten zuhören? Wie sieht es aus in Deinem Leben mit der Stimme Gottes?
- Hast Du Freude in Dir und kannst Du voll Freude und Dankbarkeit Gott loben?
- Welche Bedeutung hat für Dich Gottes Gnade, persönliche Erfahrung und das Theologiestudium?
- Und schließlich, bist Du bereit ein geistliches Vorbild zu werden? Die Zeit dafür wäre da.