
Als nächstes führen wir uns vor Augen den Apostel der Liebe Johannes. Den Evangelien entnehmen wir, dass er einer der Zwölf war und aus einer galiläischen Fischerfamilie stammte. Er gehörte zum engsten Kreis Jesu und wird öfters an zweiter Stelle, nach seinem Bruder Jakobus genannt, was auf sein jüngeres Alter hindeutet. Vom Charakter her war er, wie Jakobus, cholerisch (Donnersöhne: vielleicht im Zusammenhang mit unfreundlichen Samaritern, vgl. Lk 9,54); Der Tradition nach ist er der Autor von fünf Büchern des Neuen Testaments. Es ist überliefert, dass er wohl auf der Insel Patmos und in der kleinasiatischen Stadt Ephesus gewirkt habt; angeblich hat er sogar in der Regierungszeit des Trajan (98-117) gelebt. Wenn man davon ausgeht, dass sein Name mit dem Lieblingsjünger im Johannesevangelium identisch ist, rückt er in eine besondere Beziehung zu Jesus. Er ist der Jünger, den Jesus liebte (Joh 13,23; 19,26; 20,2; 21,20). Er liegt, wörtlich übersetzt, an der Brust dessen (Joh 13,23), der an der Brust bzw. am Herzen des Vaters (Joh 1,18) ruht. Damit entsteht eine ganz nahe Verbindung bzw. eine Brücke zwischen dem Jünger, Jesus und Gott-Vater. Sein Zeugnis ist authentisch (Joh 21,24) und entspricht der von Jesus gebrachten Kunde. Seine besondere Nähe zu Jesus hatte nicht zur Folge, dass er etwa bevorzugt wurde, sondern dass er die wahre Liebe zu Gott und dem Nächsten an sich selbst erfahren und verinnerlicht hat. Und diese seine Erfahrung will er auch heute mit uns in seinen Schriften teilen und uns den Weg weisen. Man kann Liebe nicht erfahren, wenn man nur über sie spricht. Man muss sie leben, sich von ihr erfüllen lassen. Liebe ist nie allein, sie steht immer in einer bedingungslosen Beziehung. Und jeder von uns ist ein Objekt der Liebe Gottes.
Wo finden wir sie? Woher bekommen wir sie? Wie geben wir sie weiter? Das sind Fragen, auf die wir uns Antworten geben müssen. Die Grundlage jeder Liebe finden wir in Gott, denn er ist die Liebe (1 Joh 4,8). Wir, die wir uns als gläubig verstehen und Gott zu erkennen versuchen, müssen uns darüber bewusst sein, dass das Kennzeichen unseres Glaubens die Liebe zu einander ist. Warum sollen wir einander lieben? Weil Gott uns zuerst geliebt hat, indem er seinen Sohn für die Welt, also für uns hingegeben hat (Joh 3,16; 1 Joh 4,9). Dazu sagt uns der Apostel, über den wir heute nachdenken: „Wenn jemand sagt: Ich liebe Gott!, aber seinen Bruder hasst, ist er ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, kann Gott nicht lieben, den er nicht sieht. Und dieses Gebot haben wir von ihm: Wer Gott liebt, soll auch seinen Bruder lieben.“
Ich will euren Blick lenken auf die zwei Zitate auf dem Mosaik in unserer Hl.- Geist – Kapelle, die wir schon 1000-mal gesehen und gehört haben, aber vielleicht nie richtig verinnerlichen bzw. danach leben konnten. Wir lesen dort (Joh 13,34), dass Jesus den Jüngern ein neues Gebot gibt, einander zu lieben. Das sollte in der johanneischen Gemeinde der entscheidende Punkt sein, um einen Jünger Christi von Nichtchristen zu unterscheiden. Es sollte auch ein Erkennungszeichen für uns sein.
Ein zweites Zitat bezieht sich auch auf die Liebe, auf eine Liebe, die für die Freunde bis in den Tod geht. Der Auftrag Jesu für die Jünger ist das Liebesgebot zu einander (Joh 14,15; vgl. auch 1 Joh 5,2; 2 Joh 4-6). Es gibt keine Freundschaft mit Ihm, wenn wir unseren Mitbruder hassen. Wenn wir zukünftig in unsere Kapelle treten und diese beiden Mosaikzitate betrachten, sollte sich jeder von uns im Herzen fragen, ob und wie gut er diese Gebote erfüllt. Ob jemand fromm ist oder nicht, erkennt man erst dann, wenn er in einer Gemeinschaft lebt. Denn in jeder Gemeinschaft, sei es eine Familie, ein Kloster oder auch unser Kolleg, also immer dort, wo Menschen mit unterschiedlichen Wünschen und Vorstellungen zusammen einen Teil ihres Lebens verbringen, ist es nicht einfach diesen Auftrag Jesu in idealer Form zu erfüllen. Aber, wenn wir unseren Nächsten schätzen, ihn achten, ihn akzeptieren, wie er ist und ihn respektvoll behandeln, ist das nicht anderes als ihm Liebe zu geben. Natürlich muss man manchmal den anderen auch dulden – aber auch das gehört zum Auftrag Jesu; brüderliche Zurechtweisung gehört ebenfalls zur Liebe. Jeder Mensch will von anderen geachtet bzw. geliebt werden. Schenkt er aber auch seine Liebe dem Nächsten? Ganz treffend sagte hl. Mutter Teresa: „Der Mensch lebt nicht so sehr von der Liebe, die er empfängt, als vielmehr von der, die er schenkt.“ Das Beispiel des Apostels und Evangelisten Johannes und seine Schriften ermutigen uns auch in unserem alltäglichen Handeln dem Gebot Jesu zu folgen. Seine Nähe und Freundschaft zu Jesus lehrten ihn so tief über die Liebe sprechen zu können. Nähe und Freundschaft zu Jesus zu suchen und zu finden, ist also die Grundlage aller persönlichen Liebe. Denn wir können nicht aus eigener Kraft lieben. Solche Liebe wird immer scheitern. Liebe aber, die in Gott ihren Ursprung nimmt, wird immer bestehen. Und man kann niemals den Nächsten liebevoll behandeln, wenn man sich selbst nicht liebt, wenn man sich nicht als Geschenk und Geschöpf Gottes versteht. Durch diese Gewissheit entsteht in uns ein Gefühl der Harmonie, der Zufriedenheit, der Dankbarkeit und der Freude. Harmonie in uns bedeutet inneren Frieden und Gelassenheit; Zufriedenheit darüber, was wir momentan haben und Dankbarkeit dafür, dass es den liebenden Gott gibt; Dankbarkeit dafür, dass es auch meinen Nächsten gibt, den ich lieben soll und kann. Amen.